Leben oder überleben?

In einem Kommentar auf einem Blog habe ich folgendes gelesen:
"Ich denke, gerade Mütter, die ihr Kind ins Erwachsensein begleitet haben, müssen sich wieder mühsam zurück tasten an das, was sie selber sind, waren und sein wollen. "
Das hat mich angesprochen, hat etwas bei mir ausgelöst.
Was?
Weiß ich noch nicht genau zu sagen, hat aber mit der Verwirrung zu tun, die ich seit geraumer Zeit spüre, ist mein Eindruck, es geht wohl um Identität.

Ich bin ja der Auffassung, dass nichts in meinem Leben zufällig passiert, sondern immer in einem größeren Zusammenhang gesehen werden muss, weil es nur dann verstanden werden kann. Vielleicht sind es ja die Drogen, unter denen ich stehe, die mich so verwirrt denken lassen, ich weiß es nicht, ich versuche nur einen Zusammenhang herzustellen.
Zwischen was?
Zwischen den Puzzleteilen, in die mein Leben manchmal zerfällt, oder zu zerfallen droht.

Mir ist, in den letzten Tagen, mein linke Fuß mehrfach umgeknickt. Also, ich stehe z.Zt nicht gerade fest mit meinen Füßen in dieser Realität, so scheint es mir. Seit Wochen fühle ich mich - wie soll ich sagen - eigenartig? Ich konnte nicht schreiben, wie ich das sonst jeden Tag machte, ich konnte auch andere Dinge nicht tun, die zu meiner täglichen Routine gehörten - alles ziemlich eigenartig eben.

"Ich denke, gerade Mütter, die ihr Kind ins Erwachsensein begleitet haben, müssen sich wieder mühsam zurück tasten an das, was sie selber sind, waren und sein wollen. "

Ich bin Mutter einer Tochter und manche behaupten, wir würden uns Hunde als Kindersatz anschaffen. Ich kann nur sagen, sowas ist Bullshit, den Hunde haben eine andere Dynamik als Kinder es haben. Kinder werden erwachsen und, wenn sie wollen, führen sie ein eigenes Leben, unabhängig von dem unseren. Hunde werden das nie tun, es sei denn, wir werden zusammen mit Ihnen in ein Ödland am Ende der Welt ausgesetzt und getrennt und müssen alleine versuchen zu überleben, dann könnte es sein, dass auch unsere Hunde, die an die Versorgung durch uns gewohnt sind, anfangen ein eigenständiges Leben zu führen, unabhängig von unserem, das dann wohl gerade zu Ende geht.

Was ich sagen will ist, meine Hunde sind auf keinen Fall ein Kindersatz, den ich habe ein Kind, für das ich keinen Ersatz brauche, warum auch? Dieser Fakt sagt aber nichts über unsere Gefühle aus, zu unseren Hunden, meine ich. Meine Tochter liebe ich, werde ich lieben, egal was sie tut - immer.
Hunde habe ich mir angeschafft - ja, warum?

Es war 2004, vier Jahre nach meinem totalen Zusammenbruch. Ich fühlte mich stabilisiert und stark, hatte Arbeit und ein regelmäßiges Einkommen und eine Freundin die Hunde hatte und mir immer wieder sagte, ich brauchte auch einen. Nun gut, das alleine hätte nicht ausgereicht, wenn da nicht das kleine Mädchen gewesen wäre, dass immer schon einen Hund haben wollte, einen kleinen schwarzen Hund. Das schon mal so einen hatte, auf einem schwarzen Brett, mit Rollen drunter und die erwachsene Frau, die diesen Wunsch nun erfüllen konnte, so kam Negrita in mein Leben und veränderte es.
Ich veränderte mich.
Ich gab mein festes Einkommen auf, weil diese Anstellung mich daran hinderte gesund zu werden und ich wollte einen zweiten Hund haben und Jeannie kam in unser Rudel und bereicherte unser Leben - zugegeben, das ist jetzt ziemlich verkürzt dargestellt. Dann, im Oktober 2009, wurde Jeannie überfahren und zu einem Pflegefall. Ihre Verletzungen waren so schwerwiegend, dass keiner sagen konnte wie es weiter gehen würde. Die Kosten waren so hoch, das ich nicht wußte, wie ich diese bezahlen sollte und ich begriff, dass es da eine Art von Liebe gab, ausgelöst durch diese beiden Hunde, die mir bis dahin so nicht bewußt gewesen war.

"Ich denke, gerade Mütter, die ihr Kind ins Erwachsensein begleitet haben, müssen sich wieder mühsam zurück tasten an das, was sie selber sind, waren und sein wollen. "

Ich hatte meine Tochter zu einem eigenständigen Menschen erzogen und heranwachsen sehen, sie lebt ihr Leben unabhängig von meinem, doch, versuche ich, seit dem sie ausgezogen ist, mich zu erinnern wer ich bin und was ich sein wollte, bevor sie auf der Welt war?
Nein, denn so geht das irgendwie nicht.
Ich lebe doch meine Leben immer weiter, drehe es nicht zurück, halte es nicht an, auch, wenn ich es manchmal gerne möchte. Was ich meine ist, als meine Tochter ausgezogen ist, konnte ich nicht einfach da weiter machen, wo ich aufgehört hatte bevor sie geboren war, nein, so geht das nicht.

Einen Tag vor Jeannies Unfall sagte mir ein Nachbar, wir drei zusammen würden auf ihn immer so wirken, als müsste es so sein, es wäre so harmonisch. Und genau so hat sich mein Leben zu diesem Zeitpunkt angefühlt, harmonisch und richtig.
Durch den Unfall wurde alles anders und ich kann nicht, auch wenn Jeannie inzwischen wieder top fit ist, an diesem Punkt wieder ansetzen und weiterleben - sowas ist unmöglich - denn, alles fließt. Ich hatte niemals damit gerechnet, dass einer meiner Hunde überfahren werden würde.
Naive? Vielleicht.
Dann gab es einige Entscheidungen, die nicht die Ergebnisse gebracht haben, die ich erwartet hatte, und das hat mich schwer verunsichert und gibt mir das Gefühl auf einer Eisscholle auf dem offenen Meer zu treiben.
Eine Art Grundsicherheit, Grundvertrauen scheint mir verloren gegangen.

Alles was in unserem Leben passiert, jedes Ereignis hat Einfluss auf uns, es gibt immer ein davor und danach. Ich bin heute die Summe all der Dinge, die mir in den vergangene Jahren, in den fast 60 Jahren, passiert sind, all' die Schmerzen, all' das Glück hat mich zu der gemacht, die ich heute bin. Doch wer bin ich?
Auf keinen Fall gibt es ein Zurück, zu einem bestimmten Zeitpunkt in meinem Leben, so wie es bei einem Sicherungprogramm am Computer möglich ist. Wenn heute was schief gelaufen ist gehe ich einfach in der Zeit zurück und mache den Fehler von heute ungeschehen.
Was am Computer möglich ist, geht im wahren Leben nicht, dies geht immer weiter.

Vielleicht geht es um die Identität, die sich an die neue Situation anpassen, neu definiert werden muss?

Ein Leben wird u.a. bestimmt durch starke Gefühlen wie Glück, Schmerz, Hass, Trauer, Wut und Liebe. Liebe hat viele Gesichter. Schmerz hat viele Auslöser, ebenso Hass und Wut. Nach meinem Zusammenbruch hat mich u.a. gerettet, dass ich angefangen habe meine Kreativität auszuleben, sie zu erweitern, mir neue Felder zu erobern. So habe ich überlebt.

Freude, die Fähigkeit Glück zu empfinden im Alltäglichen, den Moment zu leben, im Jetzt zu sein, das alles haben mich Negrita und Jeannie gelehrt und, das es gegenwärtig, neben der Liebe zu meiner Tochter, weitere starke Gefühle in mir gibt.
Jeannie geht es heute wieder blendend, sie ist ein Ausbund von Lebensfreude und Energie. Es geht mir sehr gut mit den beiden. Ich spüre manchmal wieder Glück und Zufriedenheit in meinem Alltag. Ich könnte also einfach leben. Warum habe ich denn dann nur das Gefüh zu "überleben"?

So wie starke Gefühle mein Leben insgesamt "erschüttern" und verwirren, hat wohl etwas auch meinen Halteapparat erschüttert, Verschiebungen herbeigeführt und Verwirrung und somit Verunsicherung und im Ergebnis nun das: Hexenschuss. Er macht mich hilflos und unfähig, wirft Pläne über den Haufen und zwingt mich zu einer Ruhe zum Innehalten, wie ungewohnt. Es ist wie Stillstand, vergleichbar dem Flugzeuglosen Himmel.

Jetzt scheine ich gerade den Faden verloren zu haben, obwohl ich mir sicher bin, dass das alles irgendwie zusammenhängt, auch, wenn ich es im Moment nicht sehen kann.

"Ich denke, gerade Mütter, die ihr Kind ins Erwachsensein begleitet haben, müssen sich wieder mühsam zurück tasten an das, was sie selber sind, waren und sein wollen.

Identität - darum geht es mir, um Selbstvertrauen und Selbstsicherheit im Jetzt, um den Glauben an sich selber, um die Summe von Erfahrungen.
Faden verloren.......

Kommentare

KB Design hat gesagt…
Deine Gedanken und Worte haben mich nun nochmals betrührt. Es ist doch absolut zutreffend, wie es Bora geschrieben hat, wir Frauen müssen uns zurücktasten und uns neu "finden". Dazu gehören alle Erfahrungen und Erlebnisse und es kann wirklich mühsam sein. ABER - es ist schon so bei mir, seit ich mir dies ganz bewusst bin finde ich meinen Weg immer besser. Ich lebe jetzt und heute und warte z.B. nicht darauf, bis ich die Kinder meiner Tochter hüten kann, damit ich da mit gleichen Aufgaben weiter machen kann! Nein, nein! Ich lebe - jetzt und hier - für mich! Auch wenn das egoistisch tönt.
Schön, jetzt werde ich die anderen Kommentare lesen und grüsse herzlich

Brigitte

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